Sehen Sie die Geschichte von Wanda Verduin in 6 Minuten

Wanda ist bei Kriegsbeginn ein ganz gewöhnliches junges Mädchen. Ihre Briefe und das Tagebuch zeigen, wie der Krieg und die zahllosen anti-jüdischen Maßnahmen in ihr Leben und das ihrer Familie eingreifen. Sie wandelt sich von einem pubertierenden Mädchen, das ständig in irgendeinen Jungen verliebt ist, in eine niedergeschlagene, ängstliche und zu jung erwachsen gewordene Frau. Sie stirbt in Auschwitz.

Zwangsumsiedlung

Das jüdische Mädchen Wanda Verduin wohnt in Bussum und liebt die Natur. Sie ist 14, als die Deutschen die Niederlande überfallen. Die Fabrik für Damenhüte ihres Vaters und Onkels wird enteignet und die Familie Verduin muss im Frühjahr 1942 in das sogenannte offene Ghetto von Amsterdam, in die Zuider Amstellaan (heute: Rooseveltlaan).

Tagebücher und Briefe

Wanda führt ab Ende Februar bis zum Sommer ’42 Tagebuch und schreibt viele Briefe an ihre beste Freundin Els Nieuwenhuijzen in Bussum. Sie darf jetzt noch reisen und liebt die Zeltwochenenden mit der Gruppe des ‘Nederlandse Jeugdbond voor Natuurstudie’ (NJN: Niederländischer Jugendbund für Naturstudium) aus Bussum. In ihrem Tagebuch schreibt sie viel über “die Jungs”, vor allem über Kees, in den sie verliebt ist.

Wanda 17061942 einde brief
29. April 1942

Mittwoch ist Kees nicht gekommen, das verstehe ich überhaupt nicht, wollte er jetzt in der Mittagspause – er wusste, dass wir Schule hatten – oder heute Abend kommen? Nach Haarlem dann. Ich verstehe es nicht. Alles ist zu Ende. Am Samstag bekommen wir die gelben Sterne, und dann ist man nichts mehr, nicht ‘rausgehen, nichts. Dann muss Els hierher kommen, komisch, ich denke mir immer wieder, dass es wohl noch ein Frühjahr geben wird, nächstes Jahr, dann kann ich wohl nach draußen gehen.

Briefe aus Amsterdam

Herbst ’42 muss Wanda in einem Nähatelier arbeiten. Ihr heiterer Ton hat sich dann schon längst geändert. Voller Wehmut über die Ausflüge mit dem NJN, an denen sie nicht mehr teilnehmen darf. Traurig über die Sorgen ihrer Eltern. Sauer, dass sie nicht mehr mit der Straßenbahn fahren darf und abends drinnen bleiben muss.

5. Juli 1942

Liebe Els, ich habe Dir tierisch lang nicht geschrieben, so dass ich Dir einige Seiten voll werde schreiben müssen, es ist nämlich wieder so viel geschehen. Wir müssen um acht Uhr drinnen sein, hoffnungslos und das im Sommer, die Juden dürfen nicht bei den “Ariern” zu Besuch, umgekehrt wohl. (…) Els, ich habe einen Turmfalken über der Stadt schweben sehen. Es war ein phantastischer Anblick, so etwas, was dir einen Schock gibt. Ich habe ihn sicher eine Viertelstunde mit meinem Fernglas verfolgt, über der Amstel schwebte er, so weit weg, dass man ihn ohne Fernglas nicht sehen konnte. Eine Silbermöwe kreiste hoch oben und Enten flogen nach außen hin weg, genau wie zwei Reiher, die hinter einander nach Westen flogen. Ich hätte mitfliegen wollen. Weit weg. Naja, nicht daran denken. (…)

Immer mehr Bekannte werden von Zuhause weggeholt. Wanda hat, wie ihr Vater, der auch im Nähatelier arbeitet, eine Sperre (Freistellung von der Deportation). Aber wie lange hilft das? Sie tröstet sich mit dem Gedanken, dass das V von Verduin hinten im Alphabet ist.

Die Familie macht Pläne um unterzutauchen. Untertauchadressen und falsche Papiere liegen bereit; Wanda färbt sich das Haar blond.




Wandas letze Brief aus Amsterdam vom 14. Januar 1943. Sie fürchtet in ‘Ost’ verhaftet zu werden. Am Abend des 14. Januar wird die Familie Verduin aus dem Haus geholt.

Ich habe gerade deinen Brief erhalten, Du kannst gerne kommen. Klasse.
Ich habe gestern Abend großen Streit mit Ernst gehabt und ich habe ihm natürlich ein blaues Auge geschlagen, mit dem Effekt, dass ich um ¼ 8 im Bett lag. Heute Morgen natürlich die notwendige Predigt bekommen, geweint, nun ja, das kennst du ja. (…)
Komm Samstag, ich weiß nicht, ob ich dich abholen komme, denn dann muss ich durch ganz Ost durch, und das mache ich besser nicht. Du kommst sicher mit dem üblichen Zug, nicht wahr?
Bis Samstag
Wanda

Briefe aus Vught

Die Sperren nutzen nichts. Die Familie Verduin wird zur Hollandsche Schouwburg und von dort aus am 16. Januar ins gerade in Betrieb genommene Lager Vught gebracht. Aus Vught schreibt Wanda noch vier Briefe an Els. Aber offen Briefe zu schreiben geht nicht mehr, Post aus den Lagern wird streng zensiert.

Brief 17-6-43 00022 (5)
17. Juni 1943

Uns geht alles gut, es ist nur so entsetzlich heiß, dass ich sehr gern ein Sommerblouse und Socken und Sandale und auch eine Seifendose hätte, die Seifendose nicht wegen die Hitze, aber weil ich meine verloren habe. So möglich auch eine Sommerhose eine lange, schicken Sie weiter keine Kleider, wenn ich etwas brauch frage ich es […]. Hab ich mich schon bedankt für das Packet und die Brief, ich weiß es nicht, schreibst du bitte oft, danke Sarine auch für ihre Brief. Weiter hab ich nichts Neues zu erzählen. Sei herzlich gegrüsz auch von mein Vater, meine Mutter und mein Bruder, und grüße alle Bekannten auch recht herzlich von uns vieren, Wanda

Ernst, Wanda, Mutter

Auschwitz

Am 16. September 1943 müssen Wanda und ihr Bruder weg aus Vught; auf Transport nach Auschwitz. Am Abend zuvor haben sie sich von ihrer Mutter verabschiedet. Die ganze Nacht haben sie geredet: über das Leben, über alles Mögliche, wozu ihre Mutter ihnen Ratschläge geben möchte.

Bruder und Schwester werden bei Ankunft in Auschwitz getrennt. Ernst denkt, dass er nicht überleben wird, und nimmt bewusst Abschied von Wanda. Er wird eingesetzt in Monowitz.

Wanda stirbt ungefähr um den 15. Februar 1944 an Typhus. Es gibt keine Briefe von Wanda aus Auschwitz.

Ernst in Auschwitz

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Eine von zwei Karten, die Ernst Verduin in die Niederlande schicken muss. Er nutzt die Gelegenheit, um wissen zu lassen, dass er seinen Cousin Bob gesprochen hat. Seine Mutter versteht aus dem übertriebenen Text “mir geht es sehr gut”, dass er das Gegenteil meint.
26. Januar 1944

Liebe Familie, mir geht es sehr gut, und ich hoffe, Euch auch. Ich höre bestimmt bald etwas. Grüßt jeden von mir und Bob Verduin. Ernst.

Ernst hat es schwer im Arbeitslager Monowitz bei Auschwitz. Er ist der Überzeugung, dass seine Schwester nicht mehr lebt. Er ist erschöpft von der Zwangsarbeit und dem Nahrungsmangel. Er verletzt absichtlich seinen Daumen, indem er ihn zwischen die Mulde eines Kippwagens steckt. So kann er einige Zeit in der Krankenbaracke liegen. Danach bekommt er eine weniger schwere Arbeit. Er holt sich aber Typhus. Mit Hilfe eines polnischen Mitgefangenen überlebt er dies.

Todesmarsch nach Buchenwald

Dann wird es Januar 1945. Die Rote Armee kommt näher. Von Auschwitz und Monowitz werden die Häftlinge, die noch laufen können, auf Todesmarsch gesetzt. Ernst ist einer von ihnen. Die Gruppe läuft die 40 bis 60 Kilometer lange Strecke nach Gleiwitz. Es ist furchtbar kalt und unterwegs gibt es viele Todesopfer.

Von Gleiwitz fährt ein Zug nach Buchenwald. Ernst weiß, dass dies in Richtung Westen ist und sorgt dafür, dass er an Bord ist. In Buchenwald behauptet Ernst, dass er kein Jude ist. Man glaubt ihm, wenn er beweist, dass er nicht beschnitten ist, und er darf zur niederländischen Baracke von nicht-jüdischen Häftlingen.

Befreiung

Ernst wird am 11. April 1945 in Buchenwald von der amerikanischen Armee befreit. Er hat in Polen schon erfahren, dass Wanda tot ist. Später wird deutlich, dass sie um den 15. Februar 1944 in Auschwitz ermordet worden ist.

Ernst ist inzwischen fast 18, wenn er in die Niederlande zurückkommt. Er hegt wenig Hoffnung, dass seine Eltern überlebt haben, denn die vergangenen zwei Jahre hat er den Massenmord ständig mit eigenen Augen gesehen. Aber sicher weiß er nichts. Er ist allein und versucht herauszufinden, wo seine Familie ist.

Inzwischen ist seine Mutter in Schweden mit einer Gruppe jüdischer Frauen, die aus dem Arbeitslager Reichenbach kommen und vom Roten Kreuz ‘ausgetauscht’ worden sind. Schon bevor Ernst in den Niederlanden zurück ist, weiß sie, dass ihr Sohn noch lebt. Die Listen der befreiten Niederländer aus Buchenwald sind in Schweden bekannt. An seinem 18. Geburtstag, den 22. Juni, bekommt Ernst als ‘Geschenk’ bei seiner Tante die Nachricht, dass seine Mutter in Schweden ist.

Vater hat nicht überlebt.

Auf diesem Familienfoto stehen die Cousins und Cousinen Verduin. Stehend, obere Reihe: Wanda, Bernard, Frits, Elisabeth, Caroline, Jacques. Sitzend, untere Reihe: Ernst, Ina, Emile, Wouter, Herman. 4 von diesen 10 haben überlebt: Ernst, Ina und Emile (Schwester und Bruder), und Jacques


© Tagebücher Wanda Verduin: Privatarchiv Ernst Verduin
© Briefe an Els Nieuwenhuijzen: Privatarchiv Lonneke Drinkwaard (Els Nieuwenhuijzens Tochter)
© Fotos Wanda Verduin: Privatarchiven Ernst Verduin und Lonneke Drinkwaard

 

In der Ausstellung wird die Geschichte von Wanda erzählt von der Musikerin Karsu (Amsterdam, 19-04-1990) und Ernst Verduin (Bussum, 22-6-1927), Wandas Bruder.

Szenario und Richtung: Alex Bakker
Kamera: Bernd Wouthuysen
Editing audiovisuell: Erik Willems, JOB Producties
Produktionsmanagement: Mirjam Huffener
Standortaufnahme mit Karsu: Liberaal Joodse Gemeente in Amsterdam, August 2015